Warum Serotonin mehr als nur ein Glückshormon ist: Einblick in unsere mentale Belastbarkeit

Der Neurotransmitter Serotonin spielt eine entscheidende Rolle für unser emotionales Gleichgewicht. Als Hauptakteur des hochkomplexen, körpereigenen Serotonin-Systems unterliegt der Botenstoff unserer individuellen genetischen Disposition, wird aber auch direkt über Erlebnisse und andere äußere Faktoren beeinflusst.
serotalin®:Was weiß man heute darüber, wie genetische Unterschiede im Serotoninsystem beeinflussen, ob Menschen eher gelassen bleiben oder unter Stress aus dem Gleichgewicht geraten?
Prof. Dr. Lesch: Die Gelassenheit bzw. Stressanfälligkeit eines Menschen wird unter anderem durch genetische Unterschiede im Serotonin-System bestimmt. Das Serotonin-System besteht aus zahlreichen Komponenten. All diese Komponenten unterliegen einer genetischen Beeinflussung. Bei der Synthese des Serotonins in der Nervenzelle spielt beispielsweise eine der Tryptophan-Hydroxylasen eine große Rolle. Für den Rücktransport von Serotonin ist wiederum der Serotonin-Transporter verantwortlich, der selbst genetisch variabel sein kann und modulierend auf das Gesamtsystem einwirkt.
Des Weiteren gibt es mindestens 14 verschiedene Rezeptoren und ihre entsprechenden Signal-Transduktions-Kaskaden, die wiederum zahlreiche genetisch regulierte Komponenten beinhalten. Diese unterschiedlichen Rezeptortypen, an die Serotonin andockt, zeigen ebenfalls genetische Unterschiede.
Zusätzlich wird das Serotonin-System auch direkt über Ionenströme, z.B. indirekt über Kaliumkanäle und über zahlreiche weitere Gene beeinflusst. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei dem Serotonin-System um einen hoch-komplexen Mechanismus handelt, auf den einzelne Gene zwar nur einen geringen Effekt ausüben, in der Summe aber mitbestimmen, wie stabil das emotionale Gleichgewicht eines Menschen ist.
Bisher reicht das Wissen der Forschung allerdings nicht aus, um zuverlässige Vorhersagen auf individueller Ebene, also für einzelne Menschen, zu treffen – dafür sind zu viele Faktoren beteiligt, genetische wie auch äußere Faktoren.
serotalin®:Serotonin wird oft mit Stimmung in Verbindung gebracht – aber es spielt auch eine Rolle dabei, wie flexibel und anpassungsfähig unser Gehirn ist. Was bedeutet das zum Beispiel für Menschen, die ständig zwischen Fokus, Kreativität und Entscheidungen wechseln müssen?
Prof. Dr. Lesch: Serotonin beeinflusst nicht nur unsere Stimmung, sondern spielt eine zentrale Rolle für die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns. Es wirkt auf verschiedene kognitive Prozesse wie Wahrnehmung, emotionale Verarbeitung, Entscheidungsfindung und kreatives Denken ein. Diese Funktionen sind eng mit der Fähigkeit verbunden, zwischen verschiedenen mentalen Zuständen – etwa Fokus, Kreativität und Handlungsplanung – flexibel zu wechseln.
Bereits in der frühen Hirnentwicklung trägt Serotonin dazu bei, neuronale Netzwerke aufzubauen, die unsere geistige und emotionale Anpassungsfähigkeit im späteren Leben ermöglichen. Es moduliert die Aktivität bestimmter Zelltypen und Netzwerke im Gehirn und wirkt damit wie eine Art inneres Regulationssystem.
Die Stimmung ist ein aktueller Zustand, der aus zahlreichen Facetten besteht. Diesbezüglich spielen insbesondere Faktoren eine Rolle, wie wir Dinge wahrnehmen, wie wir diese emotional verarbeiten und vor allem, wie wir denken. Diese grundlegenden Fähigkeiten machen unser Gehirn flexibel und anpassungsfähig und werden sehr früh in der Gehirnentwicklung angelegt.
Das heißt, Serotonin reguliert nicht nur die Gehirnfunktion, während wir uns in einer aktuellen Situation befinden, sondern unser gesamtes Leben unterliegt dem Einfluss von Serotonin – auf molekularer und zellulärer Ebene und im Bereich der Netzwerke im Gehirn, die moduliert und balanciert werden.
Kurz gesagt: Serotonin trägt wesentlich dazu bei, dass unser Gehirn nicht starr funktioniert, sondern dynamisch auf wechselnde Anforderungen reagiert – eine Fähigkeit, die gerade in komplexen, schnelllebigen Arbeits- und Lebenswelten entscheidend ist.
serotalin®:Sie haben sich über Jahrzehnte mit dem sogenannten Serotonin-Transporter befasst – einem Schlüsselfaktor in der Kommunikation zwischen Nervenzellen. Warum spielt gerade dieses System eine so zentrale Rolle für unsere Stimmung, innere Balance und Anpassungsfähigkeit?
Prof. Dr. Lesch: Der Serotonin-Transporter ist eine zentrale Steuereinheit im Serotonin-System im Rahmen der neuronalen Kommunikation. Es gibt nur ein Gen, das den Transporter steuert, was äußerst selten in der genetischen Kodierung von biochemischen Mechanismen vorkommt. Der Serotonin-Transporter bestimmt darüber, wie viel Serotonin aufgenommen wird und damit auch, wie hoch die Konzentration im Synapsenspalt oder im extrazellulären Raum ist.
Der Serotonin-Transporter fungiert zudem als primäres Zielmolekül für verschiedene Psychopharmaka wie Antidepressiva, für Drogen wie Ecstasy, für Halluzinogene insbesondere LSD im Sinne einer neuronalen Modulation. Unsere Empfindlichkeit ist dabei variabel und Wirkungen auf das Verhalten fallen individuell unterschiedlich aus.
serotalin®:In Ihrer Forschung zeigen Sie, dass sich Menschen genetisch darin unterscheiden, wie sie auf Druck oder emotionale Belastungen reagieren. Woran liegt das – und warum bleibt der eine cool, wenn der andere aus dem Tritt gerät?
Prof. Dr. Lesch: Die genetische Ausstattung eines Menschen liefert lediglich den Rahmen, in dem sich seine emotionalen Reaktionen entfalten können; sie legt keine festen Verhaltensmuster fest, sondern beeinflusst, wie empfänglich und anpassungsfähig wir in bestimmten Situationen reagieren. Entscheidend diesbezüglich ist, wie gut jemand in der Lage ist, soziale Signale zu erkennen, in speziellen Kontexten angemessen zu kommunizieren und Impulse zu kontrollieren.
Die Schlüsselfunktion des Gehirns ist es, unsere Umwelt wahrzunehmen, rationale Entscheidungen zu treffen und Emotionen auszudrücken. Zusätzlich spielen auch Faktoren wie Selbstbeherrschung – bzw. die Fähigkeit, Konsequenzen unseres Handelns einzuschätzen –, eine zentrale Rolle. Gleiches gilt für die Fähigkeit, sich sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen.
Alle diese Funktionen unterliegen dem Serotonin-System – in Abhängigkeit von der genetischen Disposition. Ein gesundes Gehirn muss grundsätzlich über aktivierende und hemmende Prozesse ausbalanciert sein: Es ist entscheidend, dass das neuronale Netzwerk im Gleichgewicht steht. Für eine stabile soziale Interaktion ist damit die genetische Disposition entscheidend, die darüber bestimmt, ob jemand in einer Situation gelassen bleibt oder ob das individuelle Stresslevel steigt.
serotalin®:Sie sagen, dass nicht nur die Gene, sondern auch frühe Erfahrungen prägen, wie wir später mit Herausforderungen umgehen. Welche Rolle spielt das in einem Alltag, der dauerhaft auf Leistung getrimmt ist – wie z.B. bei Studierenden oder Unternehmern?
Prof. Dr. Lesch: Die Gene haben nur einen sehr indirekten Einfluss darauf, welche Persönlichkeit jemand besitzt. Gleiches gilt für die daraus resultierenden Verhaltensweisen. Die Wirkung der Gene, also die Genexpression, unterliegt externen Faktoren: beispielsweise während der Schwangerschaft und der frühen Kindheit, aber auch während des gesamten Lebens. Diesbezüglich ist unter anderem das jeweilige soziale Umfeld, insbesondere das Verhalten der Mutter zu nennen.
In der frühkindlichen Phase gibt es zahlreiche empfindliche Phasen, in denen Zellgifte wie Nikotin oder Alkohol während der Schwangerschaft, aber auch Kindesmisshandlung über Stressoren bzw. umweltbedingte Reize zu einer epigenetischen Umprogrammierung der Genfunktion über biochemische Signale führen. Die Folge: eine Veränderung der Genexpression.
Diese beschriebenen Prozesse geben gleichzeitig Hoffnung, dass wir nicht unseren Genen unterlegen sind, sondern selbst Einfluss auf unser Serotonin-System und letztendlich auch auf unser Verhalten haben. Durch Lernen, Reflexion, soziale Beziehungen und bewusste Lebensgestaltung können wir unsere Genfunktionen beeinflussen – bis in die Tiefe unseres emotionalen Erlebens hinein. Gerade in leistungsorientierten Lebenswelten ist das eine wichtige Erkenntnis: Innere Stabilität ist nicht nur eine Frage der genetischen Ausstattung, sondern auch der Lebensweise und der Möglichkeiten, sich selbst zu regulieren und weiterzuentwickeln.
serotalin®:Sie forschen dazu, wie Erlebnisse im Leben unser Stresssystem langfristig beeinflussen – sogar auf körperlicher Ebene. Was weiß man heute darüber, wie sich etwa dauerhafte Belastung oder Umdenken auf unser inneres Gleichgewicht auswirken?
Prof. Dr. Lesch: Unser inneres Gleichgewicht ist wie ein biologisches und psychologisches Ökosystem. Es wird durch genetische Voraussetzungen vorbereitet, aber entscheidend durch Erfahrungen im Lebensverlauf geformt – durch Belastung ebenso wie durch die Art, wie wir damit umgehen.
Unsere Erlebnisse – insbesondere unter anhaltender Belastung oder in Zeiten großer Veränderung – beeinflussen unser Stresssystem tiefgreifend, und zwar nicht nur psychisch, sondern auch auf körperlicher und neurobiologischer Ebene. Dabei spielen Serotonin und seine Wirkung auf Persönlichkeitsmerkmale eine zentrale Rolle. Denn bestimmte Eigenschaften – etwa emotionale Stabilität, Selbstwertgefühl oder Problemlösekompetenz – hängen eng mit der Regulation durch das Serotonin-System zusammen.
Resilienz, also die Fähigkeit, trotz widriger Umstände psychisch gesund zu bleiben, wird entsprechend nicht allein durch Gene festgelegt, sondern durch ein Zusammenspiel genetischer Ausstattung und lebenslanger Erfahrung geformt. Genetisch beeinflußte Persönlichkeitsmerkmale, die wir selbst als positiv einstufen, können dazu beitragen, mit Stress besser umgehen zu können.
Ein hohes Aktivitätsniveau in Kombination mit Flexibilität, Selbstbewusstsein, Offenheit und Toleranz ist entscheidend dafür, kreative Bewältigungsstrategien und Problemlösungen zu entwickeln. Gleiches gilt für soziale Kompetenz, Neugierde gegenüber Bezugspersonen, Selbstbewusstsein und Intelligenz, die zu einer positiven Lebenseinstellung und Optimismus führen.
„On top” spielen äußere Faktoren wie Erlebnisse und verlässliche, vertrauensvolle und wertschätzende Bezugspersonen, die uns prägen, eine wichtige Rolle, um Autonomie, Stabilität, konstruktive Kommunikation und ein soziales Netzwerk aufbauen zu können. Zusätzlich ist auch eine gewisse ethische Norm für ein Mindestmaß an Spiritualität, für unsere Stressresistenz und für unsere innere Zufriedenheit erforderlich.
serotalin®:Immer häufiger ist die Rede von personalisierten Wegen in der mentalen Gesundheit. Welche Rolle kann das Wissen über individuelle Unterschiede im Serotoninsystem dabei spielen – z. B. wenn es um Fokus, Stressregulation oder emotionale Stabilität geht?
Prof. Dr. Lesch: Die Art und Weise, wie wir mit Stress oder emotionaler Belastung umgehen, ist, wie bereits erwähnt, hochgradig individuell. Das Serotonin-System wirkt dabei wie ein biologischer Vermittler: Es beeinflusst, wie wir Reize wahrnehmen, wie wir emotionale Impulse verarbeiten und wie gut wir kognitive Kontrolle ausüben können.
Es gibt zahlreiche Strategien, um Resilienz in jeder Lebenslage zu entwickeln. Letztendlich kann man sich auf das Wissen konzentrieren, dass Krisen zum Leben dazugehören und diese lösbar sind. Es ist sinnvoll, proaktiv über eine positive Lebenseinstellung an diese Herausforderungen heranzugehen. Es geht darum, Konflikte zu lösen und Veränderungen zu akzeptieren. Ein gewisses Maß an Stress ist sogar nötig, um Resilienz zu entwickeln. Wichtig ist es, sich auf seine positiven Fähigkeiten zu konzentrieren und sich beispielsweise nicht zu fragen, warum es anderen besser geht.
Ideal ist es zudem, sich immer wieder neuen Dingen zu widmen und seinen Körper und Geist immer wieder aufs Neue individuell herauszufordern und dabei Ressourcen zu entwickeln: sich regelmäßig persönliche Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen. Dabei klein anfangen und nicht gleich ein großes Ziel anvisieren, sondern sich dem Hauptziel portionsweise zu widmen; dabei aktiv zu sein, um sich wehren zu können bzw. Initiative zu ergreifen und sich stets weiterzuentwickeln, indem man dazulernt.
Auch Faktoren wie Intuition und Selbstwert und die Fähigkeit, auf seine eigenen Bedürfnisse zu hören, spielen eine Rolle. Nicht zuletzt sind auch allgemeine Empfehlungen wie ein gesunder Lebensstil über eine ausgewogene Ernährung und körperliche Bewegung und ausreichend Schlaf bzw. Regeneration zu berücksichtigen. Gleiches gilt für eine positive Lebenseinstellung, mit Harmonie und Nachhaltigkeit im Hier und Jetzt, und den Fokus auf soziale Kontakte – gerade auch in stressigen Phasen bei wenig freier Zeit.
Über den Autor: Der Psychiater und Verhaltenswissenschaftler Prof. Dr. med. Klaus-Peter Lesch ist am Zentrum für Psychische Gesundheit an der Universität Würzburg und an der niederländischen Universität Maastricht tätig. Der emeritierte Lehrstuhlinhaber für Molekulare Psychiatrie erforscht unter anderem das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) bei Erwachsenen.